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19 Mai 2024, öffne Türchen Nr. 2
(letztes Türchen 24 Dezember 2021)
MoKo-Adventskalender
Ey! Noch nicht!
Ey! Noch nicht!
Los! Worauf wartest du?
Ey! Noch nicht!
Ey! Noch nicht!
Ey! Noch nicht!
Ey! Noch nicht!
Ey! Noch nicht!
Ey! Noch nicht!
Ey! Noch nicht!
Ey! Noch nicht!
Ey! Noch nicht!
Ey! Noch nicht!
Ey! Noch nicht!
Ey! Noch nicht!
Ey! Noch nicht!
Ey! Noch nicht!
Ey! Noch nicht!
Ey! Noch nicht!
Ey! Noch nicht!
Ey! Noch nicht!
Ey! Noch nicht!
Ey! Noch nicht!
Türchen 1
Von Galax Acheronian kommt ein Ausmalbild aus folgendem Buch https://www.moko-verlag.de/schuette,-johannes--die-abenteuer-des-julius-grosztat.php
Markus Kohler vom MoKo-Verlag
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Türchen 4

4 Michael Derbort

Eine Leiche unterm Weihnachtsbaum



Agnes war echt angenervt. Alles, was heute schiefgehen konnte, ging schief. Nicht nur, dass sie ausgerechnet an Heiligabend arbeiten musste. Vielmehr hatte sich alles, aber auch wirklich alles gegen sie verschworen.
Diesen Eindruck hatte sie zumindest.

Lediglich zwei oder drei Stunden sollte sie dranhängen, hatte der Chef zu ihr gesagt. Dieser saß nun wahrscheinlich gemütlich zu Hause und schaute seiner Frau seelenruhig dabei zu, wie sie sich in der Küche abmühte oder den Weihnachtsbaum schmückte.
Agnes selbst war bereits gegen halb sieben Uhr morgens auf Arbeit gewesen. Sie hatte sich ausgerechnet, dass sie spätestens um zehn das Büro wieder würde verlassen können. Auf diese Weise liefe alles nach Plan.
Aber Pustekuchen. Der Tag begann mit der höchst unerfreulichen Feststellung, dass die PCs im Büro ausgefallen waren. Ehe sie auch nur einen Handgriff machen konnte, musste zunächst einmal ein Techniker herbeigerufen werden. Bis neun musste sie warten, ehe überhaupt jemand ans Telefon ging und weitere zwei Stunden vergingen, ehe der Mann endlich auftauchte.
So war es schließlich ein Uhr mittags, als sie Feierabend machen konnte und nunmehr lediglich noch eine Stunde Zeit hatte, Weihnachtsgeschenke zu kaufen, bevor auch die Läden in der Innenstadt schließen würden.
Es artete in puren Stress aus. Überall musste sie sich an ellenlangen Warteschlangen anstellen. Keiner der Kunden vor ihr kam auch nur im Entferntesten auf die Idee, seinen Teil dazu beizutragen, dass die Abwicklung zügig voranging. Da wurden aufwändig einzelne Cents aus der Geldbörse gekramt, nicht enden wollende Diskussionen mit der Kassiererin wegen eines bald ablaufenden Joghurts geführt oder endlos dämliche Fragen gestellt, die wortreich beantwortet werden mussten.
Erst auf den allerletzten Drücker schaffte es Agnes, sämtliche

Geschenke, die sie benötigte, einzukaufen und schwor sich, wie

eigentlich jedes Jahr, ihre Weihnachtseinkäufe zukünftig nicht mehr auf den letzten Tag zu verschieben.
Gleichzeitig überlegte sie krampfhaft, mit welcher Ausrede sie die Tatsache begründen sollte, dass sich Marcel, ihr Verlobter, über nichts Geringeres als ein paar Norwegersocken zu Weihnachten freuen durfte.
Sie eilte zu ihrem Auto, das sie in der Tiefgarage des Einkaufszentrums geparkt hatte, warf die Einkäufe auf den Rücksitz, stieg ein und atmete zunächst einmal tief durch, ehe sie den Motor anließ.
Den Chef sollte der Teufel holen! Wegen den blöden Bilanzen, die in den letzten zwei Monaten komplett vertrödelt wurden, hatte sie nun ausgerechnet heute diesen Stress! Und der Rest der Belegschaft? Eine bekam Besuch, zwei hatten über Weihnachten bereits eine Reise gebucht und die letzte Kollegin war schlicht der Meinung, sie habe schon genug Überstunden gemacht.
Und Agnes fand, dass sie wieder einmal mehr so blöd gewesen war, zu allem Ja und Amen zu sagen.
Schließlich legte sie den Gang ein und bugsierte ihren Wagen aus der

Parklücke, um sich auf den Nachhauseweg zu begeben.

Sobald sie die Schranke der Tiefgarage passiert hatte, erwartete sie die nächste Überraschung. Es hatte heftig zu schneien begonnen und die Autos krochen im Schritttempo durch die spiegelglatten Straßen. Sie musste lange warten, ehe sie sich in den Verkehr einreihen konnte. Und als sie es endlich geschafft hatte, ging es vor ihr nicht mehr weiter.
Nervös trommelte sie auf dem Lenkrad herum. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie nur noch weniger als drei Stunden hatte, bevor Marcel und ihre Eltern bei ihr erscheinen würden, um mit ihr zusammen Weihnachten zu feiern.
Auch das war ihre Idee gewesen. Sie wollte in diesem Jahr den Heiligabend allein ausrichten. Nun hatte sie den Salat. Bei den Straßenverhältnissen würde sie mindestens eine Stunde brauchen, um zu Hause anzukommen. Und dann ging es los: Geschenke verpacken, Essen vorbereiten, duschen, umziehen. Das würde eng werden. Sehr eng.
Der Verkehr setzte sich langsam wieder in Bewegung und nach einer Weile erkannte sie die Ursache für die Verzögerung. Ein Auto war auf der glatten Straße in einen Stadtbus gerutscht. Der Unfall hatte für eine Weile den Verkehr blockiert, ehe endlich jemand auf die Idee gekommen war, den ramponierten Wagen zur Seite zu schieben.
Je mehr sie sich dem Stadtrand näherte, desto weniger Verkehr war

auf der Straße.

Das bedeutete allerdings nicht, dass sie schneller fahren konnte. Die Räumdienste waren durch den plötzlichen Wintereinbruch eindeutig überfordert und auch auf den Hauptverkehrsstraßen hatte sich inzwischen eine geschlossene Schneedecke gebildet.
So blieb ihr nichts Anderes übrig, als ihre Ungeduld zu zügeln und

weiterhin die Schrittgeschwindigkeit beizubehalten. Allerdings passte sich diese bald an den Schritt eines Einhundert-Meter- Sprinters an und so schaffte sie es schließlich, sich noch ein wenig zusätzliche Zeit heraus zu kämpfen, wobei dieser Zugewinn um ein Haar auch fast dahin gewesen wäre, als sie ihren Wagen zu schnell in eine Kurve lenkte und nur im letzten Augenblick verhindern konnte, dass sie im Straßengraben landete.
Meine Güte, was für ein Scheißtag!

Doch dann stand sie vor dem Haus, in welchem sie eine großzügig bemessene Wohnung angemietet hatte. Der relativ günstigen Miete stand entgegen, dass sie am äußersten Rande der Stadt in einer recht holprigen Nebenstraße wohnte und jeden Morgen viel Zeit für die Fahrt zur Arbeit einplanen musste.
Dafür wohnte sie ruhig in einem angenehmen Umfeld.

Noch während sie ausstieg, nahm sie sich fest vor, Weihnachten erst einmal Weihnachten sein zu lassen und zunächst ihre Espresso- Maschine zu bemühen. Wenn sie bedachte, dass sie seit sechs Uhr morgens auf den Beinen war und von da an nur Stress in Reinkultur gehabt hatte, war es wirklich an der Zeit, wenigstens einmal ein paar Minuten zu entspannen.
Und wenn das Essen nicht rechtzeitig fertig war, sollte dies auch kein Problem sein. Dann mussten die anderen eben ein wenig warten. Immerhin hatte sie genügend Wein und andere Getränke besorgt und konnte so ihre Gäste durchaus ein wenig bei Laune halten. Sie würden schon nicht verhungern.
Agnes beglückwünschte sich innerlich dafür, dass sie einen ganzen Teil schon am Vorabend vorbereitet hatte, sodass sie nun nicht mehr viel Arbeit in der Küche haben würde.
Sie nahm die Tüten mit den Geschenken vom Rücksitz und ging

anschließend zum Kofferraum, um dort noch ihr Notebook herauszuholen. Kaum eine Sekunde nachdem sie diesen geöffnet hatte, knallte sie ihn ungewohnt heftig wieder zu, ging ohne Notebook ins Haus, lief die Treppen hinauf in ihre Wohnung und ließ die Tüten mit den Einkäufen einfach fallen. Den Espresso hatte sie in Gedanken auch schon längst gestrichen.
Stattdessen ging sie zur Bar und goss sich eine äußerst großzügig bemessene Portion Cognac in ein Glas. Sie leerte es in einem Zug. Schließlich lief sie wie hypnotisiert zum Telefon, nahm das Mobilteil aus der Basisstation und rief Marcel an.
„Frohe Weihnachten!“, grüßte er sie, als er ihre Stimme erkannte.

„Hat sich erledigt“, gab Agnes einsilbig zurück.

Marcel erkannte sofort an ihrer Stimme, dass etwas nicht stimmte.

„Was ist los?“, fragte er daher besorgt.

Agnes musste nochmal tief Luft holen, ehe sie klar und deutlich antworten konnte.
„In meinem Kofferraum liegt eine Leiche“, entgegnete sie schließlich.


*


„Das ist wirklich seltsam“, gab Vater versonnen von sich.

„Kind, was machst du bloß wieder für Sachen?“, erkundigte sich ihre

Mutter besorgt.

„Wie kommt der Kerl bei dir ins Auto?“, wollte Marcel wissen.

Zu viert standen sie um Agnes‘ Wagen und blickten neugierig ins

Innere des Kofferraums.

Ihre Augen hatten ihr zumindest keinen Streich gespielt. Sie hatte wirklich die ganze Zeit eine leibhaftige Leiche in ihrem Auto transportiert, ohne es zu wissen.
Wer immer diesen Toten in ihren Kofferraum gepackt hatte, war jedoch immerhin so rücksichtsvoll gewesen, das Notebook so zu drapieren, dass es durch die zusätzliche Fracht keinen Schaden nahm.
Dass der Mann tot war, ließ sich auf den ersten Blick erkennen. Seine gebrochenen Augen starrten scheinbar neugierig auf den Verbandskasten, der neben seinem Kopf lag.
Besonders auffällig waren die zusätzlichen Körperöffnungen, die

jemand mittels einer Pistole in den Unbekannten gestanzt hatte. Ein daumennagelgroßes Loch in der Schläfe wies darauf hin, dass der Schütze wirklich auf Nummer Sicher gehen wollte.
„Wer ist das?“, erkundigte sich ihre Mutter.

„Keine Ahnung“, brummte Agnes. „Er hat mir seinen Namen noch nicht gesagt.“
„Du musst nicht gleich zynisch werden“, beschwerte sich Mutter. „Es hätte ja sein können, dass du ihn kennst.“
„Nein.“ Agnes holte tief Luft. „Ich kenne ihn nicht.“

„Viel spannender ist die Frage, wie der da in den Kofferraum gekommen ist“, meldete sich Marcel zu Wort. „Von selbst ist er wohl kaum eingestiegen.“
„Und ausgerechnet an Weihnachten“, lamentierte Agnes‘ Mutter weiter.

„Hätte er sich nicht einen anderen Tag aussuchen können?“ Die anderen drei blickten sie irritiert an.
„Ist doch wahr“, beschwerte sich Mutter. „Ich hatte mich auf ein

schönes Weihnachtsfest gefreut und da kommt ihr an und zeigt mir eine Leiche.“
„Äh … Mama?“, fragte Agnes unsicher. „Nimmst du auch immer schön regelmäßig die Tabletten, die dir der Arzt verschrieben hat?“
„Werd jetzt bloß nicht pampig!“, fuhr ihre Mutter sie an. „Das ist wirklich ein unschöner Zwischenfall. Und das zu Weihnachten.“
„Mir ist es scheißegal, ob es Weihnachten ist oder nicht“, fauchte Agnes zurück. „Ich habe verdammt noch mal etwas dagegen, wenn mir irgend so ein Depp eine Leiche in den Kofferraum legt.“
„Immerhin ist es Winter“, versuchte Vater zu beruhigen. „Stell dir

mal vor, das wäre dir im Hochsommer passiert. Den Gestank kriegst du dann nicht mehr so schnell aus dem Auto.“
Agnes brauchte ein paar Sekunden, ehe sie zur Antwort ansetzen konnte.
„Sagt mal, habt ihr gekifft?“, fragte sie tonlos.

„Wo denkst Du hin, Kind?“, entgegnete Mutter empört. „Meinen letzten

Joint hatte ich 1969, als wir bei Jimi Hendrix …“
„Es reicht“, mischte sich nun Marcel ein. „Diese Diskussionen bringen rein gar nichts. Wie die Leiche dort hineingekommen ist, muss die Polizei klären und die sollten wir jetzt rufen.“
„Und was werden die Nachbarn sagen?“, erkundigte sich Mutter

besorgt.

„Die Nachbarn sind mir scheißegal!“, rief Agnes erbost. „Ich will, dass dieser Albtraum ein Ende hat und dann werde ich mich besaufen.“
„Aber es ist Weihnachten …“, erinnerte Mutter hilflos.

„Auch das ist mir im Moment egal.“
* Es war ein großer Bahnhof.

Zunächst kam nur eine Polizeistreife. Als die Beamten gesehen hatten, was Agnes ihnen zu zeigen hatte, waren rasch drei weitere Streifenwagen und ein Zivilfahrzeug vor Ort. Wenig später kam auch ein Leichenwagen, der nach Abschluss der Spurensicherung die Leiche abtransportieren sollte.
Danach kam etwas, was Agnes am wenigsten gefiel. Ein Abschleppwagen rückte an und lud ihr Auto auf. Es war vorläufig beschlagnahmt. Natürlich hatten die Nachbarn von dem Tohuwabohu, das sich vor ihren Wohnungen abspielte, Wind bekommen und drängten sich an den Fenstern.
Agnes wippte mit den Zehen, weil diese inzwischen steif gefroren

waren. Zunächst wurde sie von einigen Streifenbeamten verhört und anschließend von zwei Kriminalbeamten in Zivil.
Agnes hatte irgendwann genug von der Kälte.

„Können wir nicht in meine Wohnung und dort weiterreden?“, fragte sie.
Die Polizisten blickten sich an und nickten schließlich.

Sie ging vor und führte die Beamten in ihr Domizil.

Im Wohnzimmer bot sie ihnen einen Sitzplatz an und fragte, höflich, wie sie nun mal war, ob sie etwas trinken wollten.
Die Beamten verneinten, für ihre Eltern und Marcel machte sie einen

Kaffee und sich selbst gönnte sie erneut eine gewaltige Portion

Cognac.
Die beiden Polizisten hatten sich als Inspektor Krüger und Kommissar Rösner vorgestellt. Beide waren noch relativ jung. Agnes schätzte sie auf ihr Alter – also so um die dreißig.
„Okay“, begann sie schließlich, nachdem sie einen Schluck von ihrem

Cognac genommen hatte. „Stellen Sie mir einfach Ihre Fragen, solange ich noch antworten kann. Das wird nicht mehr lange der Fall sein.“
„Sie sollten das lassen“, riet Krüger. „Ich kann sehr gut verstehen, wie Sie sich fühlen, aber damit tun Sie sich auch keinen besonders großen Gefallen.“
„Mag sein“, brummte Agnes. „Aber ich habe für heute echt die

Schnauze voll. Erst musste ich arbeiten, dann fielen die Computer aus, dann musste ich auf den allerletzten Drücker die Weihnachtsgeschenke besorgen, und dann fängt es auch noch an zu schneien und ich gerate mitten in ein Verkehrschaos. Als ich endlich geglaubt hatte, ich könne Weihnachten in Ruhe auf mich zukommen lassen, finde ich so eine beschissene Leiche in meinem Kofferraum. Ich finde, das ist wirklich ein Tag, an dem ich mich mal so richtig besaufen sollte.“
„Kind!“, mischte sich ihre Mutter erneut unnötigerweise ein. „Ich finde, du wirkst heute wieder sehr gestresst.“
„Keine Sorge.“ Agnes kicherte leicht irre. „Das ist bei mir immer so, wenn ich Leichen im Kofferraum transportiere.“
Die beiden Polizisten blickten sich an und versuchten krampfhaft, ein Grinsen zu unterdrücken.
Schließlich räusperte sich Rösner.

„Es tut mir leid, dass wir Sie an dieser Stelle nochmal löchern müssen“, sagte er. „Aber wir müssen wissen, wo Sie heute überall mit ihrem Wagen gewesen sind und wann Sie zum letzten Mal in den Kofferraum geschaut haben. Nur so können wir eingrenzen, wer den Toten bei Ihnen ins Auto geladen haben könnte. Und vor allen Dingen wann.“
„Aber du hast diesen Mann hoffentlich nicht umgebracht“, setzte

Mutter erneut nach.

„Sag mal, spinnst du jetzt total?“, entfuhr es Agnes. „Ich weiß ja noch nicht mal, wer das ist! Und warum sollte ich bitteschön einen Menschen umbringen?“
„Naja …“ Mutter blickte sie geradezu nervtötend fürsorglich an. „Du weißt doch, dass du schon als Kind immer sehr leicht reizbar warst …“
„Ich glaub ich dreh durch!“, rief Agnes empört.

„Das reicht jetzt!“, mischte sich nun auch Marcel an Agnes‘ Mutter gewandt ein. „Weswegen du ausgerechnet Agnes jetzt den schwarzen Peter zuschiebst, verstehe ich nicht. Aber ich akzeptiere es auch nicht. Wenn nochmal so ein Spruch kommt, dann lass ich hier Rauch rein!“
„Und ich ebenfalls“, ergänzte Vater. „Komm wieder zurück in die

Realität und hör auf, unserer Tochter einen Mord in die Schuhe zu schieben!“
„Und ich möchte jetzt auch etwas sagen“, meldete sich Rösner an Mutter gewandt zu Wort. „Ich habe keine Lust, mir jetzt die ganze Zeit diese haarsträubenden Theorien anzuhören. Ihre Tochter hat den Mord mit Sicherheit nicht begangen. Dagegen sprechen etliche Tatsachen, auf die ich jetzt nicht weiter eingehen möchte. Ich will nur endlich wissen, weswegen ich hier sitze.“
„Ich meinte ja nur …“, sagte Mama kleinlaut.

„Okay, ich mache es so kurz wie möglich“, entgegnete nun Agnes. „Ich hatte heute Morgen den Kofferraum geöffnet, um dort mein Notebook hineinzulegen. Normalerweise werfe ich alles auf den Rücksitz, aber nicht solche Wertgegenstände. Ich will ja schließlich keine Einladungen für Diebe verschicken.“
„Das ist sehr vernünftig“, bestätigte Krüger. „Wann war das?“

„So gegen sechs Uhr“, sagte Agnes. „Ich wollte um halb sieben im

Büro sein, damit ich so schnell wie möglich wieder nach Hause kann.“

„Im Büro?“ Mama klang richtig empört. „An Weihnachten?“

„Verkäuferinnen müssen am Heiligabend auch bis Mittag arbeiten“, entgegnete Agnes unwirsch und wandte sich wieder an die Polizisten.
„Normalerweise haben wir heute zu. Aber irgendwelche Bilanzen mussten noch fertig gemacht werden und ich musste dafür herhalten. Hat mir auch nicht gepasst, aber es ist eben an mir kleben geblieben.“
„Von wann bis wann?“, fragte Krüger.
„Ich habe so gegen halb sieben angefangen“, erklärte Agnes.

„Eigentlich wollte ich um zehn wieder aus dem Büro raus sein. Aber dann ging alles schief.“
„Was ging schief?“ Rösner wurde hellhörig.

„Die Computer sind ausgestiegen“, erklärte Agnes. „Und bis dann der Techniker da war und ich endlich anfangen konnte, war alles zu spät. Erst gegen dreizehn Uhr bin ich aus dem Laden rausgekommen.“
„Au weia“, bemerkte Marcel grinsend. „Und wie ich dich kenne,

hattest du zu diesem Zeitpunkt noch kein einziges

Weihnachtsgeschenk.“

„Touché“, gab Agnes zerknirscht zu. „Bei dir hat es dann auch nur noch für ein Paar Norwegersocken gereicht.“ Und nach einer Pause:
„Aber ich mach‘s wieder gut. Ehrlich.“ Marcel lachte.
„Das ist typisch meine Agnes“, bemerkte er belustigt. Dann wurde er aber wieder ernst. „Machen wir einfach weiter.“
Die beiden Polizisten grinsten auch, kamen aber rasch wieder zur

Sache.

„Wo hatten Sie während der Arbeit Ihr Auto stehen?“, wollte Rösner wissen.
„Zu unserem Büro gehört eine Tiefgarage“, erklärte Agnes. „Da gibt es Mitarbeiterparkplätze für uns.“
„Ist diese Tiefgarage zufällig videoüberwacht?“, erkundigte sich

Krüger weiter.

Agnes überlegte. Dann schüttelte sie mit dem Kopf. Krüger nickte.
„Das passt“, sagte er. „Im Einkaufszentrum kann es wohl kaum passiert sein. Da ist an einem Tag wie heute der Teufel los. Zu viele Zeugen. Da würde es auffallen, wenn jemand eine Leiche in den Kofferraum packt. Also kann es nur da passiert sein.“
„Womit wir bei der nächsten Frage wären“, ergänzte Rösner. „Wie ist der Täter an die Autoschlüssel gekommen?“
„Das ist wirklich eine gute Frage“, murmelte Agnes hilflos.

„Vielleicht ein dummer Zufall? Mein Wagen hat Zentralverriegelung mit Funksteuerung …“
„Ist zwar möglich, halte ich aber für wenig wahrscheinlich“,

erklärte Krüger unverbindlich.
„Mal was Anderess“, mischte sich Rösner ein. „Den Toten kennen Sie nicht, richtig?“
„Nein“, sagte Agnes. „Nie vorher gesehen. Aber vielleicht sah er ohne Löcher im Hirn etwas anders aus.“
Krüger grinste.

„Unwesentlich“, gab er zur Antwort. „Und sagt Ihnen der Name des Toten etwas? Giovanni Russo? Er war nämlich so freundlich, seine Ausweispapiere mit sich zu führen.“
„Nein, damit kann ich nichts anfangen“, gab Agnes zu und führte ihr

Cognacglas zum Mund.

Doch dann erstarrte sie mitten in der Bewegung.

„Was ist los?“, fragte Krüger neugierig. „Ist Ihnen etwas eingefallen?“
„Verfickte Scheiße …“, hauchte Agnes.

„Kind!“, empörte sich Mutter. „Ich habe dir doch immer wieder gesagt, dass du solche Ausdrücke nicht verwenden sollst!“
„Dieses Arschloch …“, fuhr Agnes unbeeindruckt fort.

„Jetzt machen Sie es mal nicht so spannend“, drängte Rösner ungeduldig. „Wenn Sie eine Idee haben, dann sagen sie es.“
„Nur eine Idee“, schränkte Agnes ein. „Aber eine ziemlich konkrete.“

„Dann raus damit“, ermunterte sie Krüger.

„Ich fand diesen Zufall schon ziemlich beschissen“, erklärte Agnes und kassierte einen weiteren empörten Blick ihrer Mutter.
„Ausgerechnet heute ging alles schief. Warum mussten unbedingt heute

die Computer ausfallen? Und warum musste ich unbedingt Überstunden schieben. Diese bekackten Bilanzen hätten auch bis zum neuen Jahr warten können.“
„Worauf wollen Sie hinaus?“ Rösner wurde etwas ungeduldig.

„Moment.“ Agnes machte eine abwehrende Geste. „Das ist eine etwas längere Geschichte. Bei uns im Büro hing in den letzten Wochen ein wenig der Haussegen schief. Unser Chef hatte gewaltigen Ärger – mit einem italienischen Investor. Wie der Knilch hieß, weiß ich nicht, aber Giovanni Russo klingt verdammt italienisch.“
„Er ist Italiener“, bestätigte Rösner. „Mit italienischem Pass.

Wohnhaft in Mailand.“

„Passt zusammen“, bestätigte Agnes. „Die Firma, von der da die Rede war, sitzt ebenfalls in Mailand.“
Die beiden Polizisten waren mit einem Mal sehr aufmerksam.

„Sie müssen sich mal unser Büro vorstellen“, erklärte Agnes weiter.

„Wenn Sie zur Tür reinkommen, befindet sich links unsere Teeküche und rechts ein kleiner Raum, den wir als Garderobe nutzen. Der Gang geht noch etwa drei Meter weiter und dann kommen die Tische mit den Computern. Wie Sie sich denken können, war ich ziemlich im Stress und hätte nicht unbedingt mitbekommen, wenn jemand reingekommen wäre. Das geht aber auch nur, wenn derjenige einen Schlüssel hat. In der Garderobe hing mein Mantel und in meinem Mantel sind auch die Autoschlüssel.“
„So weit, so gut“, bemerkte Rösner. „Aber wieso konnte der Unbekannte wissen, dass die Autoschlüssel ausgerechnet dort drin waren? Ich meine, Sie könnten sie ja auch in der Handtasche gehabt haben.“
„Ich besitze keine einzige Handtasche“, sagte Agnes. „Ich finde die Dinger spießig. Die Schlüssel sind immer in meinem Mantel oder in meiner Jacke – je nachdem, was ich gerade trage.“
„Also kann das jeder wissen, der Sie kennt“, mutmaßte Rösner.

„Wie mein Chef.“ Agnes‘ Blick verfinsterte sich.

„Einen Moment“, intervenierte Krüger. „Wieso haben Sie ausgerechnet ihren Chef auf dem Kieker.“
„Erstens: Die Bilanzen konnten warten“, sagte Agnes. „Dafür wäre

zwischen den Jahren immer noch genügend Zeit gewesen. Da haben wir das sonst immer gemacht. Also warum ausgerechnet heute? Zweitens: Ich glaube nicht an Zufälle und so langsam wird mir klar, warum die Computer heute ausgestiegen sind. Wenn jemand am Server herum pfuscht, kann das sehr schnell in die Hose gehen. Und jetzt raten Sie mal, wer als Einziger in unserem Laden das Server-Passwort kennt.“
„Ihr Chef.“ Rösner zog gespannt die Augenbrauen nach oben.

„Der Kandidat hat hundert Punkte.“ Agnes trank ihr Glas leer, verzichtete aber darauf, nochmals nachzuschenken. „Und der hatte auch den Zoff mit den Italienern. Da war sogar die Rede davon, dass das theoretisch das Ende der Firma sein konnte. Und was mich schon verblüfft hatte, als ich die Leiche im Kofferraum entdeckt hatte, war, wie sorgfältig der Täter auf mein Notebook geachtet hatte.“
„Das müssen Sie mir jetzt aber genauer erklären“, bat Krüger verblüfft.
„Ich hatte das Notebook einfach in den Kofferraum gelegt“, erläuterte Agnes. „Irgendwo mitten rein. Ich mache so einen Scheiß zwar nicht, aber wenn ich eine Leiche in einen fremden Kofferraum stopfe, dann würde ich zusehen, dass ich das so schnell wie möglich fertigkriege, bevor mich jemand sieht. Da wäre mir alles, was da drin ist, scheißegal. Aber der Täter hat sich die Mühe gemacht, das Notebook so neben der Leiche zu verstauen, dass es keinen Schaden nimmt.“
„Und?“ Krüger konnte man regelrecht anmerken, dass er die Pointe kaum noch erwarten konnte.
„Ich bin ein fleißiges Mädchen.“ Agnes grinste schief. „Ich hatte auf diesem Notebook meine Hausaufgaben. Eine Kosten-Nutzen-Rechnung für ein riesiges Projekt, das diese Firma wahrscheinlich über zwei Jahre gebracht hätte. Ich musste es nur noch fertig ausarbeiten und gleich zum Jahreswechsel hätten wir durchstarten können. Sozusagen ein digitaler Goldesel. Allerdings nur, wenn die Daten und das Notebook den Jahreswechsel unbeschadet überstehen.“
„Und das wusste ihr Chef natürlich auch“, schloss Rösner mit

unüberhörbarer Bewunderung.

„Exakt.“ Agnes machte eine unbestimmte Geste. „Ich sollte dafür sogar ab Januar eine saftige Lohnerhöhung bekommen. Aber jetzt verwette ich meine Weihnachtsgans, dass ich gleich nach den Feiertagen beim Arbeitsamt anheuern kann.“
„Ich halte diese Wette jetzt nicht“, sagte Krüger. „Aber ich glaube,

so oder so können Sie Ihre Gans selbst essen. Was ich jetzt brauche, ist der Namen und die Adresse Ihres Chefs.“
„Moment.“

Agnes ging zu ihrem Schreibtisch und kramte in den Schubladen herum. Dann schrieb sie etwas auf einen Zettel und reichte diesen anschließend den beiden Polizisten.
Diese bedankten sich und hatten es plötzlich sehr eilig zu gehen.


*
Das Weihnachtsfest in diesem Jahr war anders. Deutlich anders. Das mochte mit Sicherheit daran liegen, dass eine Leiche - quasi unterm Weihnachtsbaum – kein alltägliches, sondern alles in allem ein recht gewöhnungsbedürftiges Ereignis war.
Die Gespräche drehten sich den ganzen Abend um dieses eine Thema und eine festliche Stimmung, wie sie an einem solchen Tag eigentlich zu erwarten war, mochte sich einfach nicht einstellen.
Einer der Gründe dafür waren sicherlich auch die haarsträubenden

Einwendungen von Agnes‘ Mutter, die immer neue abstruse Theorien zum

Besten gab.

Eigentlich war sie eine herzensgute Frau, aber hin und wieder legte sie eine beängstigende Realitätsferne an den Tag, die ihrer Familie nicht zum ersten Mal den letzten Nerv raubte.
Vaters trockener Humor und die Tatsache, dass zumindest der Hauch

einer Chance bestand, dass die Angelegenheit rasch aus der Welt geschafft werden konnte, rettete den Abend allerdings.
Auch Agnes‘ Kochkünste und drei Flaschen Rotwein trugen erheblich dazu bei.
Als sie sich in der späten Nacht verabschiedeten, konnte man zwar nicht von einer gelösten Stimmung sprechen, aber alle Anwesenden hatten sich spürbar entspannt.
Marcel blieb noch bei Agnes.

Sie trugen gemeinsam das Geschirr in die Küche und kümmerten sich um den groben Abwasch. Dann saßen sie gemeinsam auf dem Sofa und Agnes kuschelte sich an ihn.
„Sag mal“, begann Marcel, während er ihr durchs Haar streichelte.

„Was sind das denn genau für Hausaufgaben auf deinem Notebook?“

„Oh Mann!“ Agnes klang sofort gereizt. „Ich habe jetzt eigentlich keine Lust mehr, über meine Arbeit zu sprechen.“
„Ach, na komm schon …“ Marcel grinste. „Vielleicht hast Du dann

nächstes Jahr mehr Geld und kannst mir mal was Anderes außer

Norwegersocken kaufen.“

„Hey, du Blödmann!“, rief Agnes mit gespielter Empörung und knuffte ihn in die Rippen.
„Im Ernst“, wiederholte Marcel seine Frage. „Worum geht es, was kostet der ganze Spaß und was springt im Endeffekt dabei heraus?“
„Das ist ein Projekt, das über drei Jahre geht“, erklärte Agnes und erläuterte die Projektidee. „Ist eigentlich ein Goldesel. Du steckst rund 250.000 Euro rein und kannst in den ersten beiden Jahren drei bis vier Millionen herausholen.“
„Und was passiert mit diesem Projekt, wenn Euer Chef wirklich der

Killer war und in den Knast wandert?“, hakte Marcel nach.

„Hmmm …“, Agnes zuckte mit den Schultern. „Dann wird es sich sehr wahrscheinlich mit einem lauten Knall in ein rosarotes Wölkchen auflösen.“
„Zweihundertfünfzig Riesen?“ Marcel sah sie fragend an.

„In etwa.“

„Und wie sicher ist die Sache?“

„Mit den Geschäftskontakten der Firma ist das eine Lizenz zum Geld drucken“, fasst Agnes zusammen.
„Kannst du diese Kontakte auch nutzen?“

„Klar. Die kennen mich alle persönlich“, entgegnete Agnes. „Ein wenig aufbrezeln, tiefes Dekolleté und die fressen mir aus der Hand.“
Dann blickte sie ihn beunruhigt an.

„Worauf willst du eigentlich hinaus?“, wollte sie wissen. Ehe Marcel antworten konnte, klingelte das Telefon.
Fluchend erhob sich Agnes und ging zum Apparat. Wahrscheinlich war

es Mutter, die ihr mitteilen wollte, dass sie wohlbehalten zu Hause angekommen waren.
Doch es war Rösner.

Marcel beobachtete, wie sich ihre Miene zunächst verfinsterte, dann aufhellte um sich sogleich wieder zu verfinstern.
Als sie noch wörtlich fragte, ob man sie mit ihrem Chef mal eine

Stunde alleine in einen Raum sperren könne und sie dazu lediglich um einen Baseball-Schläger bat, ahnte Marcel bereits leicht belustigt, worum es bei dem Gespräch ging.
Abschließend bedankte sie sich artig und legte auf.

„Es war die Polizei“, erklärte sie. „Die haben meinen Chef verhaftet und er hat auch schon gestanden. Ich kann also gleich nach den Feiertagen zum Arbeitsamt. Die haben mich zwar gelobt und mir gesagt, dass ich als Zeugin eine gute Polizeiarbeit geleistet hätte, aber das hilft mir jetzt herzlich wenig.“
„Komm wieder zu mir“, bat Marcel, der immer noch auf dem Sofa saß und breitete einladend seine Arme aus.
Mangels Alternativen folgte sie seiner Einladung und kuschelte sich wieder an ihn.
„Ich habe einige Reserven“, erklärte er ihr schließlich, während er ihr wieder durchs Haar strich. „Ich denke mal, die zweihundertfünfzigtausend Euro krieg ich zusammen. Ein Ton von dir und wir ziehen das Projekt gemeinsam auf.“
Agnes fuhr hoch und starrte ihn grenzenlos verblüfft an. Marcel grinste.
Dann küsste er sie.

„Frohe Weihnachten“, fügte er noch hinzu.


ENDE
Advientos-Türchen

Türchen 1
1-12-2021
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Von Galax Acheronian kommt ein Ausmalbild aus folgendem Buch https://www.moko-verlag.de/schuette,-johannes--die-abenteuer-des-julius-grosztat.php

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