Ventana nº 20
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LESEPROBE
Astrid Leutholf
"Theophrastus Wundermacher - auch Wünschen will gelernt sein"
ERSTES KAPITEL
in dem es auch noch nicht gleich losgeht, weil jede Geschichte eine Vorgeschichte hat und in dem der Grundstein für folgenschwere Verwicklungen gelegt wird
Am Rande einer großen Stadt, in der es wohl mehr Fabrikschlote als Schornsteine auf den Dächern der Wohnhäuser gab, lag das Dorf Wünscherow. Es glich anderen Dörfern, hatte kleine bunte Häuschen, große Wiesen, einen Marktplatz und einen Dorfteich, in dem es sogar einige Fische gab. Die Menschen, die hier lebten, waren wie alle Menschen. Einige waren nett und freundlich, andere nahmen es mit Höflichkeit oder gar Hilfsbereitschaft weniger genau. Dennoch konnte man mit jedem halbwegs auskommen, wenn man seine kleinen Fehler und Schwächen kannte und sich darauf einstellte.
Und das taten die Wünscherower. Sie mochten weder Streit noch Feindseligkeiten, denn in einem so kleinen Dorf ist jeder schnell verwickelt in eine Auseinandersetzung, und ehe man es sich versieht, liegt das halbe Dorf in Fehde miteinander. Daran war keinem gelegen.
Einer der Bewohner von Wünscherow war August Meyer. Herr Meyer war ein netter alter Mann, der schon so lange in dem Dorf lebte, dass sogar ältere Wünscherower sich nicht daran erinnern konnten, dass es eine Zeit gegeben hätte, in der August Meyer nicht abends mit einer Pfeife im Mundwinkel und seinem Hund Harras an der Leine durch den Ort spaziert wäre.
Wie die meisten Bewohner des Dorfes hatte Herr Meyer ein Häuschen und einen Garten, in dem Birnbäume, Apfelbäume und Kirschbäume wuchsen. Dazwischen gab es Beete mit Radieschen, Petersilie, Mohrrüben und Kopfsalat. Alles in diesem Garten wirkte gepflegt und ordentlich.
Herr Meyer war sehr stolz auf seinen Garten und hätte ihn wohl für nichts in der Welt hergegeben. Ebenso wie an seinem Garten hing er auch an dem Dorf. Er war hier aufgewachsen, hatte eisige Winter und brütend heiße Sommer erlebt, kannte noch die Armut der Dorfbewohner, als das ganze Land im weiten Umkreis zum Gut des Grafen Protz gehört hatte.
August Meyer war von hier aus in einen Krieg gezogen, der nicht sein Krieg war und der ihm seinen Vater und seinen besten Freund Ole genommen hatte. Er hatte die endlosen Umsiedlertrecks gesehen und auf dem Friedhof hinter dem Dorf seine Frau Luise begraben. Doch all das war lange her. August Meyer war alt geworden. Für die Bewohner von Wünscherow war er schon fast so etwas wie ein Stück Dorfgeschichte.
Manchmal an milden Sommerabenden erzählte er von früher, und auch in die Schule hatte man ihn schon eingeladen. Da hatte er dann von seiner Kindheit als Stallbursche auf dem Gut berichtet. Hinterher hatten die Kinder dann einen Aufsatz über Herrn Meyer und den Gutshof geschrieben.
Samstags oder sonntags liebte Herr Meyer es, an den Dorfteich zum Angeln zu gehen. Abends unterhielt er sich oft mit den Kindern, wenn sie zu ihm kamen, ihm eine Puppe oder ihr Fahrrad brachten, die repariert werden mussten.
Danach ging er dann meist noch einmal durch seinen Garten und schaute, ob alles seine Ordnung hatte, ob die Hühner und Kaninchen versorgt waren und ob auch das Gartentor verschlossen war.
War alles wie es sein sollte, zog er sich zufrieden in sein Häuschen zurück, schloss die Fensterläden und zündete eine kleine alte Petroleumlampe an. Auf dem Regal an der Wand lag ein sehr altes und sehr dickes Märchenbuch. August Meyer setzte sich in seinen Lehnstuhl neben dem Regal, zündete sich seine Pfeife an, griff nach dem Märchenbuch und begann zu lesen.
Jeden Abend las Herr Meyer in dem alten Buch. Viele der Märchen hatte er schon so oft gelesen, dass er sie bereits auswendig kannte. Das waren seine Lieblingsmärchen, die er auch den Kindern gern erzählte.
Man könnte sich jetzt fragen, warum August Meyer die Märchen immer wieder las, da er sie ja alle kannte. Doch das hatte seinen besonderen Grund, und eben dieser Grund ist es, der zum Ausgangspunkt meiner – oder besser Herrn Meyers – Geschichte wird.
Aber erzählen wir der Reihe nach. Denn bis zu diesem Punkt kannte ich die Sache ja, ebenso wie die Bewohner von Wünscherow. Was es nun aber mit dem Märchenlesen von Herrn Meyer wirklich auf sich hatte, erfuhr ich bei meinem Besuch. Und nun … geht es wirklich los.
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